Öffentliche Abgußmuseen gehörten bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts zu den Vorzeigeobjekten im Kunst- und Kulturleben vieler Städte nördlich der Alpen. In zentralen Museumsbauten hatte man ihnen die wichtigsten repräsentativen Räume zugewiesen, wo sie mitunter als „Mittelpunkt aller Sammlungen“ hoch geschätzt waren. Die Idee, größere Abgußsammlungen einzurichten, geht auf die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zurück. Damals wurden Gipsabgüsse für die Zeichensäle neu gegründeter Kunstakademien erworben, wie sie während des 18. Jahrhundert fast jeder Landesherr eines europäischen Kleinstaats förderte. Hier waren die Abgüsse außer einigen kunstsinnigen, gelehrten Persönlichkeiten vornehmlich den Kunststudenten zugänglich.
Anläßlich seines Besuchs der Pariser Akademie im Jahre 1665 erklärte Bernini, das Studium vorbildlicher Skulpturen des Altertums sei für die Ausbildung junger Künstler unerläßlich. Denn „es hieße sie verderben, wenn man sie von vornherein vor das Naturmodell setzt. Die Natur ist fast immer matt und kleinlich, und wenn die Vorstellung der Schüler nur von ihr genährt wird, werden sie niemals etwas wirklich Schönes und Großes schaffen können, denn die natürliche Welt vermag das nicht zu bieten.“ Er empfahl deshalb, „Gipsabgüsse von sämtlichen schönen Antiken anzuschaffen ..., damit die jungen Leute daran lernen. Man läßt sie die antiken Modelle abzeichnen, um ihnen zunächst die Idee des Schönen beizubringen, an die sie sich dann ihr ganzes Leben halten können.“ Dieser Gedanke wurde später im Lehrprogramm aller anderen Akademien fest verankert.
Die Formen antiker Plastik waren als verbindliche Norm akzeptiert, so daß auch den Abgüssen ein genereller Vorbildcharakter zugesprochen wurde. Man erwartete, daß sie als musterhafte Beispiele einen erzieherischen Einfluß auf die Stil- und Geschmacksbildung junger Künstler und Kunstgewerbler ausübten, daß sie das allgemeine Gefühl für die Wahl der guten Formen bestimmten. Welche Wirkung von ihnen ausging, zeigen Äußerungen vieler Zeitgenossen, die den Anblick der Abgüsse als ein emotionales Kunsterlebnis ersten Ranges empfanden. Geradezu überwältigt war der Maler Asmus Jakob Carstens, der 1776 die Kopenhagener Sammlung betrat: „... und ein heiliges Gefühl der Anbetung, das mich fast zu Tränen bewegte, durchdrang mich ... Ich hätte mir keine größere Glückseligkeit denken und wünschen können, als immer in der Betrachtung dieser herrlichen Gestalten zu leben.“
Abgüsse wurden nicht etwa als billiger Ersatz für unerreichbare Originalwerke erachtet. Sie konnten sogar höher eingeschätzt werden, wobei der stoffliche Eigenwert des weißen strukturlosen Gipses eine wesentliche Rolle spielte. Eine wichtige Eigenschaft des weißen Materials sah man darin, daß es im Abguß die reine plastische Form ohne irgendeinen Oberflächenreiz verkörpert. Diese ästhetische Vorliebe für das Ideal der reinen Form als Ausdruck des wahrhaft Schönen wurde auch theoretisch begründet.
J. J. Winckelmann (1717-1768) erschienen die Gipsabgüsse größer als die Originale. „Da die weiße Farbe ... die meisten Lichtstrahlen zurückschickt“, folgerte er, müsse „auch ein Körper desto schöner sein, je weißer er ist“. Auf einen Besucher der berühmten Mannheimer Sammlung wirkten die Abgüsse im Jahre 1795 „zum Studium noch besser als die Originale selbst“, weil diese wegen ihrer polierten Oberfläche „ein unsicheres, zerstreutes und falsches Licht geben; die Abgüsse von Gips aber nicht“. Dementsprechend heißt es im Stuttgarter Hofkalender von 1811: „...ein guter Gipsabguß vertritt also die Stelle des Originals, und hat noch den Vorteil, daß er dem ungeübten Auge das Urbild reiner zeigt, als es in der Natur gesehen wird.“ Der enorme Abstraktionsgrad des indifferenten weißen Gipses ermöglichte es, alle zufälligen Materialfehler und Erhaltungsspuren an der Oberfläche zu eliminieren, aber auch die Besonderheiten eines Originals wie z. B. die diaphane Stofflichkeit eines Marmors oder den funkelnden Glanz einer Bronze auszulöschen. Diese Eigenheit des Gipses kam der idealistischen Grundhaltung entgegen, da ihr der Gedanke an Materialgerechtigkeit und individuelle, natürliche Oberflächeneffekte keine Kriterien waren.
Als weiteren Vorteil der Abgüsse schätzte man ihre nahezu grenzenlose Verfügbarkeit. In Mannheim lobte Goethe 1769 vor allem die Präsentation der Gipse in einem Raum, der wegen hoch angebrachter Fenster optimale Lichtverhältnisse aufwies. Da die Abgüsse zudem „auf ihren Postamenten beweglich und nach Belieben zu wenden und zu drehen“ waren, konnten sie bereits damals zur vergleichenden Betrachtung immer wieder neu gruppiert werden. Diesen Vorzug hob auch Lessing hervor, als er 1777 die Mannheimer Abgüsse sah. Er meinte, „daß ein Aufenthalt in diesem Antikensaal dem studierenden Künstler mehrere Vorteile gewährte als eine Wallfahrt zu ihren Originalen nach Rom, welche großenteils zu finster oder auch zu hoch oder auch unter den schlechteren zu versteckt stünden, als daß sie der Kenner, der sie umgehen, befühlen oder aus mehreren Augenpunkten beobachten will, gehörig benutzen könnte“.
Keines dieser Argumente verlor bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Das Abgußwesen kulminierte sogar in einer regelrechten Hochblüte, nachdem die Gipse im Unterricht an Gymnasien und Universitäten verstärkt eingesetzt wurden. Fast industriemäßig wurden die Abgüsse nun in speziellen Formereien produziert. Sie standen nicht mehr allein in Akademien, einigen Künstlerateliers und Privathäusern großer Gelehrter, sondern auch in den Wohnungen all derer, die etwas auf ihre klassische Bildung hielten. Den Abgüssen eignete dadurch die Qualität von bürgerlichen Bildungssymbolen, die nach wie vor „den Geschmack läutern und auf das wahrhaft Schöne ... lenken“ sollten (Goethe, 1829).
Da die maßstabgetreuen Abgüsse ein einzigartiges didaktisches Instrument waren (und sind), wurde ihnen in öffentlichen Sammlungen eine zentrale Bedeutung beigemessen. Es genügte bald nicht mehr eine ideale Auswahl einiger herausragender Beispiele antiker Skulptur. Entscheidend war es vielmehr, größtmögliche Vollständigkeit anzustreben und auf diese Weise einen detaillierten, lückenlosen Überblick über die antike Kunst- und Kulturgeschichte darzubieten. Was durch Neuerwerbungen weniger Originalskulpturen niemals zu leisten war, sah man in dieser Idee eines Musée imaginaire verwirklicht. Hier ließen sich an einem einzigen Ort alle irgendwie bedeutsamen Werke in der Form preiswerter Abgüsse vereinigen. Unter solchen Voraussetzungen plädierte noch im Jahre 1912 ein anerkannter Professor dafür, „daß eine wissenschaftliche Führung in einem Abgußmuseum dem Kunstfreund weit mehr bieten (kann), als eine solche durch Vatikan und Lateran“, die größten Originalsammlungen der Welt. In Berlin bezeichnete man diese Gipse zeitweise als den „Mittelpunkt aller Sammlungen“ (August Stüler, 1840), in Dresden feierte sie die Presse als „ein Nationalwerk ..., auf welches Sachsen stolz sein kann“ (1857).
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert setzte sich aber auch eine Kritik an Sinn und Zweck der Abgüsse durch, die in einer veränderten geistigen und ästhetischen Grundhaltung wurzelte. In den Kunstakademien war man es leid geworden, unter dem Zwang eines strengen Reglements ständig nach Abgüssen alter Plastik zeichnen zu müssen. Statt dessen forderte man die selbständige Auseinandersetzung mit lebendiger Natur, aktuellen Themen und zufälligen optischen Erscheinungsformen. Diese Entwicklung hängt wohl mit einem neuen Realitätsbewußtsein und einer frischen Sensibilität für das allgemeine Naturgefühl, für handwerkliche Originalität und Materialgerechtigkeit zusammen, wie sie sich in der Zeit des Impressionismus herausgebildet hatte. Im Zuge dieser veränderten Sehweise wendete sich die ehemalige Wertschätzung der Abgüsse in ihr Gegenteil. Als mechanisch reproduzierbare Wiederholung sah man im weißen Gipsabguß nicht mehr ein Abbild der reinen Form mit ihrem Anspruch auf die wahre Schönheit, sondern einen blassen Abklatsch der bloßen, und das heißt: der toten Form. In der Öffentlichkeit beschimpfte man die weißen Gespenster als Zeichen einer „irregeleiteten und nachgerade fatal und schändlich werdenden und mißverstandenen ‘Volksbildung’, jener billigen Popularisierung, ... deren Geist und lebenszerstörende Wirkung heute überall zu spüren sind“ (B. E. Werner, 1931).
In scharf geführten Diskussionen um den Stellenwert der Gipse verlangten seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts viele Stimmen ihre sofortige Auslagerung oder Zerstörung, was dann verschiedentlich auch geschah. Während des Krieges gehörten die Abgüsse zum letzten, das der Sicherung vor Bombenangriffen würdig gewesen wäre. Manche wertvollen Sammlungen wie z. B. die Münchner mußten deshalb zugrunde gehen. Auch in der Nachkriegszeit hat sich diese Kritik nicht wesentlich geändert. Bis in die späten 60er Jahre galten Abgüsse als Symbole eines überholten und hinderlichen Kunst- und Bildungsideals.
Die erfolgreiche Befreiung aus den Zwängen jener bürgerlichen Bildungstradition hat aber auch bewirkt, daß die Gipse wie mit einem Schlag aus dem Schußfeld ideologischer Kritik geraten sind. Seit über 20 Jahren erleben sie in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens wie auch im privaten Alltag einen neuen und neuartigen Boom, der ihrer Beliebtheit kaum Schranken setzt. Man begegnet ihnen beim Gang durch Geschäftsstraßen, wo sie in Schaufenstern stehen und auf Plakaten erscheinen, sieht sie in Filmen und Werbespots, in Büros und Wohnungen. Die weißen oder auch patinierten Abgüsse und der bloße Symbolwert klassischen Stils genügen vollends, ein Gefühl von vorbildhafter Schönheit, Reinheit, Klarheit, Echtheit erfolgreich zu evozieren.
Dieser Sympathiewelle entspricht eine erfreuliche Tendenz, die ihren gegenwärtigen Stellenwert auf wissenschaftlichem, musealem und denkmalpflegerischem Sektor betrifft. Abgüsse fungieren dort als vollgültige plastische Dokumente, wo originale Denkmäler ganz oder teilweise zerstört sind, bzw. durch äußere Einflüsse einen nicht zu verhindernden Schaden leiden. Längst gibt es spektakuläre Fälle, in denen ein qualitätvoller Abguß sogar die Position eines solchen Originalwerks einnimmt oder die einzige exakte Vorlage zur Rekonstruktion verlorener Originalteile ist. Im musealen Bereich werden Gipsabgüsse wieder als ideale Ergänzung zum notwendigerweise beschränkten Bestand an Originalskulpturen erkannt und geschätzt. Wie in der Vergangenheit erweisen sich die Abgüsse als optimale Hilfsmittel. Sie erlauben es, ganz bestimmte Eigenheiten einer Skulptur, ihr Volumen, die Art ihrer Ausdehnung im Raum und ihre plastische Oberflächengestaltung objektiv zu erfassen, zu beurteilen und zu genießen. Im Abguß lassen sich auch verlorene Werke wiedergewinnen, die in späteren, unterschiedlich erhaltenen und stilistisch voneinander abweichenden Kopien überliefert sind. Da sich diese Kopien zumeist in weit auseinanderliegenden Museen befinden, sind entsprechende Abformungen nur in einem Abgußmuseum direkt miteinander vergleichbar und im Glücksfall zu einer vollständigen Skulptur zusammenzusetzen. Anders als im 19. Jahrhundert ist die Sammeltätigkeit nicht mehr auf absolute Vollständigkeit in jeder Hinsicht ausgerichtet. Sie orientiert sich vielmehr an zeitgemäßen Fragekomplexen, um historisch bedeutsame Phänomene visuell veranschaulichen und interpretieren zu können. Beispielhaft geschieht das in München durch die Sammelschwerpunkte „Hellenistische Plastik“ (3.-1. Jh.v. Chr.) und „Antike Porträtkunst“, aber auch in Sonderausstellungen, wie sie das Museum für Abgüsse z. B. zu den Themen „Die Bildnisse des Augustus. Herrscherbild und Politik im kaiserlichen Rom“ (1979), „Sokrates in der griechischen Bildniskunst“ (1989), „Dionysos – die Locken lang, ein halbes Weib?“ (1997) oder „Metamorphosen Teil 1: Fischer oder Philosoph?“ (2001) erarbeitet hat.
H.-U. Cain
N. Himmelmann, Utopische Vergangenheit (1976) S. 69 ff.;
F. Haskell – N. Penny, Taste and the Antique ² (1982) S. 16 ff., 31 ff., 79 ff.; P. Zanker, Rehabilitation der Abgüsse, NZZ Nr. 124, 30.-31.5.1992, S. 69.;
H.-U. Cain, Gipsabgüsse. Zur Geschichte ihrer Wertschätzung, Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg (1995) S. 200 ff.;
K. Stemmer u.a., Berliner Gypse des 19. Jahrhunderts. Von der Idee zum Gipsabguß, Ausst. Kat. Berlin 1993; I. Kader, Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Band 13 (1999) s. v. Abguß/Abguß-sammlung, Spalte 1-6.